Reviews

Morse, Neal
Testimony

Label: InsideOut (2003)

Vor fast genau einem Jahr gab Neal Morse, seines Zeichens Mastermind bei den Über-Proggies von Spock's Beard und Initiator von Projekten wie Transatlantic, seinen Ausstieg bei seiner Stammband bekannt. Damit nicht genug, auch alle weiteren musikalischen Engagements schmiss das sympathische Musikgenie einfach hin. Der Grund dafür mag heutzutage noch genauso bescheuert und fadenscheinig klingen, aber der gute Neal hatte seine Erleuchtung gefunden, ihm war Gott höchstpersönlich erschienen - darüber mag man jetzt lachen oder dem Herrn Morse eine zu hohe Dosis an bewusstseinserweiternden Mittelchen unterstellen, Fakt ist, dass Neal seit einem guten Jahr gläubiger Christ ist, und der festen Überzeugung, dieser felsenfeste Glaube ließe sich nicht mit "seiner" Musik verbinden.

Allem Anschein nach hatte Morse aber selbst schnell bemerkt, dass er schlicht und einfach zu sehr durch und durch Musiker ist, als dass man dies alles von heute auf morgen sein lassen könnte. Schon bald gab es die ersten Auftritte mit seiner Beatles-Coverband (natürlich mit Neals Freund Mike Portnoy am Drumkit), und mittlerweile ist sein erstes Solo-Album auch fertig geworden.

Davon werden einige Leute sicherlich wenig halten, immerhin könnte Neal doch, wenn er schon in der Lage ist, ein eigenes Album aufzunehmen, auch wieder oder weiter bei Spock's Beard oder Transatlantic musizieren. Ja, könnte er. Will er aber offensichtlich nicht, und damit hat sich dieses Thema -zumindest für meine Wenigkeit- schnell erledigt.

Hat man sich durch das Monumentalwerk "Testimony" ein Mal richtig durchgearbeitet, es ansatzweise verstanden, die musikalischen Wege nachvollzogen und die Kunst in ihrer reinsten Form in sich aufgesogen, so ist es völlig egal, ob es in Zukunft noch kongeniale Platten mit Morse bei anderen Bands geben wird - Neals "Geständnis" ist das Beste der letzten dreißig, vierzig Jahre Musikgeschichte in einem packenden Cocktail präsentiert, der nicht mehr unterschiedliche Ingredenzien haben könnte. Die Beatles treffen auf The Who, Simon & Garfunkel gehen mit Marillion einen Saufen, relaxte Swing-Rhythmen treffen auf Flamenco-Parts und wundern sich unterwegs über die plötzlich auftauchenden Country-Einflüsse, herzzerreissende, balladeske Stücke werden von vertrackten instrumentalabfahrten abgelöst, Pink Floyd laden Genesis zu einem Plausch ein, und irgendwo, in verdammt hohen astralen Sphären, da treffen all diese Einflüsse wieder zusammen, tanzen den Tanz der musikalischen Elemente und werden schlussendlich zu dem, was hier schlicht und einfach mit "Testimony" betitelt ist - und dabei einen Tiefgang bietet, wie es kaum ein musikalisches Werk in der letzten Dekade fertig brachte.

Auf zwei prall gefüllten Scheiben erwarten den geneigten Hörer insgesamt 29 Stücke, welche in fünf Kapitel unterteilt wurden. Insgesamt bringt es "Testimony" dabei auf stolze 123 (!) Minuten Spielzeit, dafür benötigen einige Bands ganze drei Studioscheiben. Wer jetzt nölt, dass das doch bestimmt langweilig wird und diese Musik doch sowieso nur zur Selbstdarstellung dient, der sollte dieses Review sowieso wegklicken - klassischer Fall von Thema verfehlt.


Wer auch nur Ansatzweise in der Lage ist, sich in Musik reinzuhören, reinzuversetzen, willens ist, sie zu verstehen, nachzuvollziehen - für euch wird "Testimony" nicht nur ein gefundenes Fressen sein, sondern vor allem auch einer dieser musikalischen Offenbarungen, welche man höchstens ein Mal alle zehn Jahre zu hören bekommt. Das hier ist nicht nur die höchste Musikerschule, das ist schon derart gut, als hätte der Allmächtige persönlich Neal ein wenig unter die Arme gegriffen. Album des Jahres? Album des Jahrzehnts!

Rouven Dorn






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